Texte

Die Wa(h)renretter, 25.07.2022

Deprimierter Spargel

Ich mache jetzt was Cooles. Ich rette Lebensmittel.
Arme Karotten, traurige Erdbeeren, deprimierter Spargel, altersmüde Tomaten, vorwitzig keimende Zwiebeln. Hunderttausende dieser Früchte und Gemüse werden jährlich abgeschoben. Auf ihre Altenteil, also auf den Müll. Die Zahlen schwanken, aber es handelt sich laut Welthungerhilfe um circa 12 Millionen Tonnen Nahrung, die jedes Jahr in Deutschland weggeworfen werden. Pro Kopf jährlich bis zu 75 kg. Aber zwischen Mindesthaltbarkeitsdatum und Schimmel liegt (ähnlich wie bei Best-Agern) noch eine lange Lebensspanne. Bisher wurden Lebensmittel nach dem Haltbarkeitsdatum und spätestens nach dem Braunwerden (in Ernährungskreisen selbst auf Teneriffa kein erstrebenswerter Zustand) entsorgt. Aber zwischen dem unrettbar Verlorenen finden sich immer noch Perlen. Genauer gesagt Nahrung, die manchmal sogar wegen ihres unansehnlichen Äußeren in perfektem Zustand ist.

Weiße Braunbären

Das Beste neben dem Stipendium „Land in Sicht“ des hessischen Literaturrates im vergangenen Jahr war meine Mitgliedschaft bei den Wa(h)renrettern e.V..
Aber gehen wir zurück: 2021. Eines der Jahre, die wir alle lieber aus unserem Kalender streichen würden. Zumindest die ersten fünf Monate. Aber so ab Sommer wurde es besser und ich ab September Stadtschreiberin in Runkel, einer pittoresken Kleinstadt an der Lahn. Richtig gute Ideen sind vermutlich so selten wie weiße Braunbären. Aber hier ist eine und sie heißt: WIR VERSCHWENDEN KEINE LEBENSMITTEL.
Jede Woche darf ich dreimal nach Runkel fahren, um gegen eine Spende Nahrungsmittel abzuholen. Ich koche fast täglich seit vielen Jahren. Kochen ist Carearbeit. Neue Rezepte nutze ich nur noch als Ausweg aus der Einfallslosigkeit. Ansonsten: Gib mir ein paar Zutaten, ich mache etwas daraus. In Runkel an der Lahn steht eine Garage, die wie ein Tante Emma Laden wirkt. In den den Regalen liegen Waren. Vier Kühlschränke stehen dicht an dicht.
Drei Mahlzeiten plane ich im Höchstfall. Wenn viel Kohl im Regal liegt, gib es Kohl. Die Warenrettung ist nichts für Menschen, die mit Einkaufsliste und festen Wünschen shoppen gehen. In Körben wartet sogar das, was ich im Supermarkt vermisse oder zu oft vergesse: Chilischoten, Ingwer. Es gibt Wurst und Käse, Salat, Obst und Eier. Manchmal sogar Wasser und Bier. Denn in der deutschen Bürokratie wird keine Ware außer Honig ohne MHD (Mindesthaltbarkeitsdatum) ausgewiesen. Eier findet man nicht immer, aber wenn, zum Beispiel nach Ostern, dann in rauen Mengen. Ich stelle mir Hühner vor, die seit März im Akkord Eier legen. Wir backen jetzt wie verrückt Kuchen, essen Omelett oder irgendetwas mit Spiegeleiern. Die Warenrettung macht vor keinem Cholesterinspiegel halt. Wenn Menschen aus der Ukraine eine Unterkunft benötigen, verlangst du auch nicht nach Georgiern.

6933 Kisten

Wer sind aber diese Helden des Alltags, die bestoßenen Avocados noch ein zweites Leben geben?
Es handelt sich um acht Menschen, die unterschiedlichste Berufe ausüben. Am Anfang stand ein schlichter Gedanke: Lebensmittel nicht mehr wegzuwerfen. Klingt bestechend einfach. Ist es aber nicht. Hier wird spürbar, dass Ehrenamt oft die Lücken des Sozialstaates füllt. Manche dieser Freiwilligen arbeiten bis zu hundert Stunden zusätzlich im Monat, damit Menschen wie ich „einkaufen“ können. Natürlich kaufe ich nicht ein. Der Verkauf nach Haltbarkeitsdatum abgelaufener Lebensmittel ist verboten. Die Abgabe der Lebensmittel erfolgt gegen eine Spende an den Verein. Und diese ist allen freigestellt. Wichtig dabei: Hygiene und gute Lagerung. „Wir haben mit Spenden ein Kühlhaus eingerichtet, damit wir Waren auch zwischenlagern können.“ Patrick Garzinsky ist erster Vorsitzender des eingetragenen Vereins.
Spenden bezahlen Benzin, Behälter und all das, was den Verteiler am Laufen hält. Für Zahlenjunkies und die Empirie: 2021 wurden 6933 Kisten Waren gerettet. Krass.
Als ein Schnuppertag angeboten wird, bin ich die erste, die die Hand hebt. Warenrettung: Wie geht das eigentlich?

Eimer mit Blumen auf dem Schoß

Wir treffen uns um neun Uhr, fahren zu dritt mit dem Sprinter los. Patrick, seine Frau Jessica und Maik Seichter haben im Laufe der Zeit Märkte angesprochen und für ihr Projekt geworben. Der erste Markt, wir fahren an die Rampe, klingeln. Ich ziehe Gummihandschuhe an. Eine Mitarbeiterin des Discounters deutet auf drei Einkaufswagen. Patrick und ich sortieren aus. Verschimmelte Früchte, geborstene Milchprodukte, schmieriges Gemüse. Ich bin Aschenputtel. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Wer Angst vor Welkendem oder dem Verderben hat, ist hier verkehrt. So sammeln und sortieren wir uns durch das, was die Märkte uns zur Verfügung stellen. Maik nimmt unsere neu gepackten Kisten entgegen und bunkert sie im Sprinter nach einem ausgeklügelten System. Bevor wir abfahren, hinterlassen wir alles gekehrt und ordentlich. Wenn wir gegen ein Uhr wieder in Runkel ankommen, wird der Wagen voll beladen sein. Was bleibt, ist gut, oft sogar tadellos.
„Manchmal“, sagt Maik, „haben die auf dem Beifahrersitz noch Eimer mit Blumen auf dem Schoß.“
Für die Märkte und für die Statistik füllen wir nach jedem Besuch Zettel aus, auf denen wir festhalten, wie viele Kisten wir wo und wann abgeholt haben. Maiks Superkraft: Er kann sich präzise alle abgeholten Mengen merken, manchmal sogar noch Tage danach.
Drei Kisten Obst und Gemüse, eine Kiste MiPro (Milchprodukte), Blumen, Getränke unter Sonstiges ein ausgelaufener Eimer Farbe. Wir räumen auf, verabschieden uns. Nächster Supermarkt. „Nur“ drei Trolleys und eine Palette. Manchmal wird man von der Menge der aussortierten Waren schier übermannt. Parallel bespielt Patrick verschiedene WhatsApp-Gruppen. Er ist ein ausgezeichneter Kommunikator. Normalerweise ist die Route festgelegt. „Aber manchmal, wenn ein Markt spät anruft, fahren wir abends nochmal raus.“ Fast undenkbar in Deutschland, aber es gab sogar schon einmal ein paar Rollen Klopapier, die gerettet wurden.

Für unsere Gesellschaft ist die Warenrettung ein Win-win-Geschäft. Die Supermärkte müssen sich nicht um die aussortierte Ware kümmern. Sie werden dadurch nachhaltiger, bessern ihr Image auf. Die Tafel, die Wa(h)renretter, es ist genug für alle da. Dass Lebensmittel möglichst umfassend verwendet werden, ist vielen Marktleiter*innen und Mitarbeiter*innen ein persönliches Anliegen. Schön, dass es diese Menschen gibt.
Manche Länder schieben der Verschwendung jetzt schon einen Riegel vor, so zum Beispiel Spanien.
Verbrauchern ist das Image der Läden wichtiger denn je. Fairtrade und Biolabel. In Zeiten, in denen immer mehr Konsumierende auf Nachhaltigkeit achten. Sinnfrage: Soll oder darf ich gerettetes Fleisch aus schlechter Haltung essen? Antwort: Was schon in der Welt ist, sollte auch verbraucht werden. Die Mitglieder sind glücklich, weil sie in Zeiten der Inflation und steigender Lebensmittelpreise einen vollen Kühlschrank haben. Tiere auf dem Bauernhof freuen sich über das, was die Mitglieder nicht essen können. Denn nichts, wirklich nichts, wird weggeworfen. Landwirte holen die letzten Reste ab. Die Organisatoren sind glücklich, weil sie mit Dankbarkeit ihrer Mitglieder überschüttet werden.

Räumen, Putzen, Essen

Vor dem Verteiler warten schon weitere Freiwillige. Denn wir drei sind nicht einzigen, die eine Runde bei den Märkten drehen. Außer uns sind noch andere Teams unterwegs. Weiterer Freiwillige, noch mehr ehrenamtliches, unbezahltes Engagement. Wer so viel Ware bewegt, muss etwas von Logistik verstehen. Wer in die Märkte fährt, betreut einmal wöchentlich auch den Verteiler. Eine Facebook-Seite mit Rezepten gibt es ebenfalls. Auch sie wird von einer Freiwilligen bespielt. Genau so wie eine Flohmarktgruppe. Nachhaltigkeit als pragmatisches Prinzip. Als Mensch, der seit Jahren fast nur Gebrauchtes konsumiert (Flohmärkte, Sperrmüll, Kleinanzeigen), spricht mich das an. Auf einem Tresen stehen Blaubeerkuchen und Nudelsalat. Mitglieder wissen, dass den Freiwilligen keine Zeit zum Kochen bleibt. Die abgeholten Waren werden nach einem festen System in die Regale und Kühlschränke eingeräumt. Wichtig: Durch entsprechende Behälter unterbricht man Kühlketten nicht. Es ist Samstag und in zwei Stunden werden die ersten Mitglieder Lebensmittel abholen. Auch Sonntage sind nicht frei. Der Verteiler wird geschrubbt. Jede Kiste, jeder Behälter, der Boden und die Kühlschränke. Eine Stunde Arbeit für fünf Freiwillige.

15:00 Uhr. Die ersten Mitglieder fahren vor. Die Verteilung erfolgt im Zehn- oder Fünf-Minutentakt. Dreimal in der Woche können Lebensmittel gerettet werden. Jeweils am Tag vorher melden wir uns in der App mit einem Daumen-hoch. Mittels Zufallsgenerator werden Plätze verteilt. So kommt jede/r in den Genuss, einmal als Erste/r in die Kühlschränke zu schauen. Dieses Zufallsprinzip, das den Mitgliedern einen bestimmten Zeitpunkt zuteilt, ist Ergebnis eines Lernprozesses. Denn wo es etwas umsonst gibt, meldet sich auch die Gier. Die vollen Regale üben auf viele einen unwiderstehlichen Reiz aus. Ähnlich wie beim Flippern kommt es zu einem Tilt-Effekt. Nicht erst Corona hat uns zu Hamstern gemacht. Fairness ist demnach oberstes Gebot.

Geliebt, bestaunt

Wir retten, was das Zeug hält. Am besten immer in den selben Taschen. Auch bei der Umverpackung ist Nachhaltigkeit gefragt. Die Waren sollten auch verwendet werden. Klappt nicht immer, aber wir streben stets danach. Das Verbrauchen macht Arbeit, und es kostet Zeit. Es ist wie mit kleinen Katzen. Du kannst sie nicht einfach adoptieren, du musst dich auch um sie kümmern. Zu müde nach der Arbeit? Egal. Erst retten, dann aussortieren, angemessen lagern und einen Teil davon direkt schnibbeln, mischen, kochen, backen, dann auftischen. Marmelade, Obstsalat, Zwiebelchutney. Die Warenrettung macht erfinderisch. Neugierig. Innovativ. Man muss improvisieren können. Aber auch konservative Verbraucher*innen kommen auf ihre Kosten: Äpfel, Birnen, Suppengrün. Alles da. Supermärkte sortieren es aus: Von den Wa(h)renrettern wird es noch geschätzt. Manchmal geliebt, bestaunt. Delikatessen wie Oliven, Crème brullee. Carpaccio. Ja, meine sehr verehrte Damen und Herren, auch Schokolade wird nach Mindesthaltbarkeitsdatum entsorgt, wenn die Wa(h)renretter nicht mit ihrem Sprinter vorfahren. Schokolade!

Kapitalismus und Ausbeutung

Rund 1,3 Mrd. Tonnen Lebensmittel werden weltweit weggeworfen. Sie werden sogar mit diesem Wissen produziert.
Ein Drittel aller Nahrung geht auf dem Vertriebsweg verloren oder verdirbt. Andere Menschen hungern, gerade jetzt wieder u.a. im Jemen, in Kenia und Somalia. Die Zahlen schwanken, aber rund 345 Millionen Menschen hungern weltweit in 82 Ländern.  Hungerkrisen drohen. Ein Drama, das wir bisher mit Nordkorea verbunden haben. Aber es kommt uns mit durch den Klimawandel ausfallenden Ernten und dem Kampf um nicht geliefertes Korn aus der Ukraine ganz nah.
Hunger, Kinder, die daran sterben, ein Thema, an dem man grundsätzlich verzweifeln kann.

Hier das Kontrastprogramm, Pervertierung unserer modernen Welt: Jede/r, der schon einmal staunend in einem Supermarkt gestanden hat, weiß, dass es unmöglich ist, dass diese Vielfalt in Kürze aufgekauft werden kann. Es ist nicht machbar, über das Thema Warenrettung zu schreiben, ohne über Kapitalismus und Ausbeutung von Ressourcen nachzudenken. Da wird Menschen in Chile das Wasser abgegraben, um Avocados zu pflanzen, die besonders gern von uns gegessen werden. Auf Netflix gibt es dazu eine interessante Dokumentation. Nicht umsonst heißt sie „Verdorben“:
Nur damit diese Früchte in Supermärkten auf gut gebauten, grünen Pyramiden landen, dann aber nicht gekauft, aussortiert und womöglich weggeworfen werden. Kannst du dir nicht ausdenken! Ausbeutung und Verschwendung sind siamesische Zwillinge. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Sich über Lebensmittel den Kopf zu zerbrechen, bedeutet nicht erst seit der Getreideknappheit (ausgelöst durch den Angriffskrieg in der Ukraine), auch über globale Ungerechtigkeit zu sprechen.
Macht und Ohnmacht, zwei Gesichter eines Problems.

Geiz ist nicht geil

Warum es vielen Mitgliedern der Wa(h)renretter so schwer fällt zu spenden, ist nur schwer zu verstehen. Lebensmittel, auch abgelaufene, haben schließlich einen Wert. Wer im Supermarkt shoppen geht, kennt den Preis eines vollen Einkaufswagens. Leute, knausert nicht! Wenn im Durchschnitt zwei Euro fünfzig gespendet werden, ist das nicht schmeichelhaft. Los, ihr Geizigen, gebt euch einen Ruck! Großzügigkeit steht euch gut, und Geben ist seliger als Nehmen. Die Warenrettung ist demokratisch: Sie fragt nicht nach Herkunft oder Einkommen ihrer Mitglieder. Sie ist freigiebig.

Ich bin dankbar und glücklich, dass ich ein kleiner Teil dieser Gemeinschaft sein kann. Dass es Menschen mit festen Überzeugungen gibt, dass sie dafür einstehen, auch wenn es Ihnen große zeitliche Opfer abverlangt. Dass ich vom Freiwilligendienst anderer Menschen und Lebensmitteln, die so im Nutzkreislauf bleiben, profitieren darf.
Ich feiere diese Idealisten! Solche Menschen verdienen nicht nur unsere Anerkennung, sie verdienen Preise. Die Stadt kann sich mit diesen Bürgern schmücken. Ehrenamt im Ritterstand.
Wenn ich mich in meinem Garten umsehe, denke ich an den Verteiler: Blumen, die, als ich sie rettet, wie nach einem Atomschlag aussahen. Verdorrt und welk, dem Tod geweiht. Nach einem Wasserbad haben sie sich wieder aufgerichtet. Jetzt blühen sie in meinem Beet und flüstern jeden Tag im Wind: Wie schön, dass wir nicht weggeworfen wurden.

Die Helfer und Helferinnen:
Karl Ritter, Osman Erdogan, Nicole Schwab, Naam Oberender, Martina steinhardt, Paolo Lucchesi, Veronika Niang, Daniel Müller, Patrick Sohnsmeier, Andrea Spit, Adrian Rybczynski, Anja und Udo Suppus, Anke Kapell, Marlene Büttner, Sabine Kleindopff

Gerade noch Zeit, ein paar Dos and Dont’s der Warenrettung einzuführen:

Don’t:

Mülle den WhatsApp-Verlauf nicht zu!
Sei süß wie ein Eichhörnchen, aber hamstere nicht!
Sei kein Geizkragen!

Do:

Lies sorgfältig die Nachrichten des Administrators.
Nimm nur das mit, was du auch verwerten kannst.
Teile! (Und herrsche nicht.)
Sei allzeit freundlich und dankbar.
Verleihe deiner Freude Ausdruck!
Spende großzügig.
Schlafe erst eine Nacht darüber, bevor du eine beknackte WhatsApp schreibst.
Bringe dich mit deinen Talenten ein!
Konsumiere nachhaltig und lebe glücklich!


CrimeMag, 01.07.2020
„Warum Sie von mir hier keine Besprechung lesen“

Crimereads, 14.05.2019
Auszug aus „Fashion Week“ in BERLIN NOIR
Herausgeber: Thomas Wörtche, übersetzt von Lucy Jones
Zitat: „Seconds passed, and Thea felt something strangely soothing in the way blood was pooling under Ansgar. His white bathrobe of ultrafluffy organic cotton was turning pink.“

Herland, 25.01.2018
„Wahrnehmungsstörungen – Kritik an Kritik“
Zitat: „Je mehr Männer einen Mann besprechen, desto mehr Männer besprechen einen Mann.“

Aufenthaltsstipendium Sankt Moritz 6/2017

Texte aus der Sommerfrische im Blog:
Sommerfrische 1
Sommerfrische 2
Sommerfrische 3
Sommerfrische 4

Literaturhaus München
Blog zum Seminar Kriminalromane
„All diese Leichen“

Herland, 25.01.2018
„Wahrnehmungsstörungen – Kritik an Kritik“
Zitat: „Je mehr Männer einen Mann besprechen, desto mehr Männer besprechen einen Mann.“

Dori lachte

Dori freute sich. Die Sonne schien ihr aus dem Arsch. Riedener Wald West stand auf dem Schild. Der Parkplatz platzte fast. Es brummte, sauste, kreischte. Ein Sattelschlepper wartete noch auf die Last. Daumen hoch, zeigte der Fahrer durch das Fenster an. Dori sang „Toxic“ von Britney Spears. Dori trug immer schwarz, weil das Leben scheiße war. Der Bus donnerte hinter uns, obwohl er stand. Der Motor strahlte Hitze ab. Dori hob den Rock mit beiden Händen an. „Du Marilyn!“, rief ich ihr zu. Und Dori lachte puren Sex auch ohne Ton. Dori machte immer so ein blödes Zeug.
Der Fahrer ließ die Scheibe runter. Er krümmte die Lippen zu einem Pfiff. Seine Blicke stachen in Doris weiße Haut.
„Komm, Dori. Wir müssen wieder rein.“ Ich wollte, dass sie weitermachte. Der Asphalt atmete uns an. Die Sohlen meiner Chucks schmolzen fast. „Los. Mach doch mit!“ Dori drehte sich. Sie tanzte, Arme oben links, dann rechts.
Ben stolperte aus dem Bus. Ben: schwarze Strähnen wie Uhrzeiger auf der Stirn. „Fuck. Mann. Ist das heiß.“ Er wedelte an seinem T-Shirt rum, auf dem ein Smiley nur noch verknittert smilete. Dori wurde schwindelig von all der Dreherei. „Willst du welche?“ Ben hielt nur mir eine Tüte Cashewkerne hin. Ich hatte Durst, aber das Gatorade auf meinem Platz im Bus vergessen. Ich schüttelte den Kopf.
„Gib mal!“ Dori torkelte und stoppte. Fast wäre sie nach links weggekippt. Ein metallic-blauer Audi hupte. Ben wollte es nicht, doch Doris Hand hing schon in der Tüte. „Was ist das überhaupt?“
„Nichts.“ Ben zog die Tüte weg. Aber Dori riss daran. Die Kerne sprangen in alle Richtungen, rollten unter den Sattelschlepper, verkrochen sich unter den Bus. Ein paar ergatterte Dori gerade noch. Ben robbte auf den Knien um uns herum. Seine Fingernägel kratzten über den Asphalt.

Und da steht Dori in ihrem schwarzen, über den Schultern schrägen Top. Plötzlich geht die Zeit im Schritt. Abgase wehen mir ins Gesicht, als Dori sich die Nüsse in den Mund rieseln lässt. Nuss für Nuss, den Kopf gen Himmel gereckt, die Lippen weit. Die Sonne brennt über uns wie eine Feuersbrunst. Dori kaut und lacht. Jemand ruft: München! und ich denke, Reykjavik, das wär’s jetzt für die Klassenfahrt. Jetzt knie ich mich hin, weil so nah war ich Ben noch nie. Es macht mir nichts, dass ihm seine scheiß Nüsse so wichtig sind. Ich greife nach der einen, nach der er greift. Hand auf Hand, Gesicht an Gesicht. Kurz knipse ich die Sonne aus. Stelle mir vor, wie sich Bens Zunge zwischen meine Zähne schiebt. Ben riecht nach Schweiß und Gatorade.
Ich reiße die Augen wieder auf. Dori liegt neben uns und zuckt. Ich denke, sie lacht, weil sie die Luft einzieht. Der Mund steht auf wie ein Loch beim Minigolf. Ich sag noch was, wie „Komm, Dori, lass den Scheiß!“, aber ihre Augen sperren, ihre Hände krallen. Dann tritt sie um sich. Der eine Schuh geht ab. Ich denk noch, Nüsse, Mensch. Danach bleibt Dori plötzlich starr. Der LKW-Fahrer steigt langsam aus. Es stinkt nach Diesel oder so. Dori macht immer so ein blödes Zeug.

„Tausend Tode schreiben“ Version 2/4 , Frohmann Verlag

Gegenüber nichts Neues

Schneetreiben. Draußen, weißer Wirbel. Meine Wange glüht. Rot. Ein träger, farblicher Nachhall auf das akustische Signal. Wie Schallgeschwindigkeit, nur langsamer. Der Schmerz ist zu meinem Mitbewohner geworden. Ich warte auf den nächsten Schlag, den das Schicksal an mich austeilt. Sprachlose Stille. Der Schlüssel dreht sich. Er hat nur einen erstickenden Hauch seines Geruchs hier gelassen. Nicht mal das Knacken der Heizung. Es ist kalt. Drinnen wie draußen. Gewöhnlich. Ich stehe am Fenster. Ich bin meine eigene geschlossene Gesellschaft. Für andere bin ich unsichtbar. Das Licht fällt auf die Scheibe: ein glitzernder Reflex. Weiß, brennend, abgelenkte Strahlung. Ablenkendes Manöver. Wenn sie mich sähen. Ich starre auf das Auto. Seit dieser Nacht steht es da. Muss. Weil es gestern Abend noch nicht da war. Fiesta Corsa. Ich kenne mich nicht aus. Schwarz, hiesiges Nummernschild. Gut zu lesen, kaum verdreckt. Der Lack ist ab. Eine Delle hinten links. Die Stoßstange hat was abgekriegt. Bestimmt tut es das Rücklicht nicht mehr. Mit weißem Edding auf dem Kofferraum vermerkt: „Maxi, ich fahr dich mit dem Taxi.“ Gereimte Zuneigung in kindlicher Erwachsenenschrift.
Ich vermute nur. Der Russe von drüben. Entweder der dünne Lange, der älter aussieht als er ist oder der breite Große, der seine eigene Inhaltslosigkeit beherzt weg lächelt. Beide haben Kinder. Die wiederum sind alle Halbbrüder, Halbschwestern. Jeder mit jedem. Was eben so passiert im täglichen Vollrausch. Einer von denen hat ihn abgestellt. Den Corsa. Nicht irgendwo. Nicht am Straßenrand. Er steht mitten auf der Straße. Wie eine Warnung auf vier Rädern. Noch dunkler als schwarz in dem weißen Treiben. Schnee schon seit Tagen. Mal nass und matschig. Heute weiß, leicht und bleibend. Der Asphalt hat sein Totenhemd angezogen. Ein Hochzeitskleid ist es garantiert nicht. Nicht hier. Kurz vor dem Ende der Welt. Es geht noch schlimmer. Das ist klar. Hinter den Bergen, endlose Ödnis, gesellschaftliche Nulllinie, kulturelles Aus, sozialer Hades. Wie in Zentralkongo oder im Outback. Nur zehn Kilometer weiter. Da fährt man über Feldwege. Die Häuser sehen aus wie aus den Fünfzigern – kein Wirtschaftswunder. Schlammgrau, mörtelfarben, falsche Plastikwände in Fliesenoptik. Ich bin jahrelang drauf reingefallen – immerhin.
Aber jetzt sind wir hier. Ich und das Auto; es steht immer noch da. Schwarz auf weiß. Das Dach mit einer weichen, weißen Mütze. Bewegungslos. Ich beobachte nur. Aber ich bin total beunruhigt. Der Wagen ein schwarzes Loch, Materie verschlingend. So schräg auf der Straße. Wer will da noch durchkommen? Nicht, dass hier ständig Verkehr wäre. Sonntags nicht. Kein Mensch. Das Leben eingefroren. Unter Null. Eis. Kalt. Die Karre sendet Signale aus: Etwas stimmt nicht! Merkt das denn keiner in diesem Gott verdammten Loch?! Ich beobachte nur. Nervös, obwohl es dazu keine Anlass gibt. Nichts, was mich normalerweise beunruhigt. Schritte vor der Tür. Atemgeräusche durch das Schlüsselloch. Metallisches Drehen.
Und während die Unruhe meine Handflächen feucht macht, höre ich den Wagen sprechen. Es ist ein heiseres Raunen, nur leicht mit E 300 geschmiert. Durchgetaktet, abgelöster Wahrnehmungsirrsinn. Warum kann die dumme Sau seinen fahrbaren Untersatz nicht ordentlich abstellen? Zu besoffen, zu bedröhnt, zu was-weiß-ich? Das ist kaum auszuhalten! Herzklopfen. Fingernägel knacken zwischen den Zähnen. Strähne aus der Stirn. Die nicht mehr ganz weiße Häuserwand gegenüber bekommt Risse. Sozialer Wohnungsbau, nur ohne sozial und Bau: Einfachverglast, Nachtspeicher, Klo aufm Flur. Bei Regen oder Frost eine ursprüngliche Naturerfahrung. Ganz leises Sirenengeheul. Mein Fuss pocht einen arhythmischen Takt auf dem Boden. Laminat – billige Wohnlichkeitslüge mit kapitalistischem Blendeffekt. Ist das sein Atem? Sein Schweiß? So gut kann nicht mal ich riechen. Ich bin zu weit weg. Er hoffentlich auch.
Und dann geht alles ganz schnell: Notarztwagen, Rettungswagen, Polizei. Plötzliche verärgerte Wendung. Einmal um den Block. Der Corsa steht immer noch da. Zwei Frauen rennen auf die Straße. Winken. Die eine Frau, die andere Frau – von dem einen und dem anderen. Verwirrende Verwandtschaftsverhältnisse. Ganz normal hier kurz vor der Hoffnungslosigkeit. Die Leute haben es eilig. Es ist still. Neben den Flocken fliegen die Blaulichteffekte umher. Die Intervalle überlagern sich wie stumme Zwölftonmusik auf einer farbigen Klaviatur. Ich halte die Luft an. Der Wagen steht immer noch da. Er wirkt weniger bedrohlich neben der massiven, bunten Konkurrenz seiner institutionellen Kollegen. Ich habe keine Uhr, aber es dauert ungefähr zehn Minuten. Dann kommen sie wieder raus. Irgendwie langsam, gemächlich. Das Tempo ist raus. Zwei Notarztnachzügler tragen den langen Dünnen. Den mit den Alterslinien. Das Tuch ist über ihm drüber – total drüber. Aber ich erkenne die schwarzen Arbeitsschuhe. Zu lang der Mann. Die Frauen stehen da, Flocken auf den Schultern. Keine heult. Beide in schwarz, als hätten sie erwartet, dass er es tut. Ich bin nicht überrascht. Das Auto hat es die ganze Zeit über hinausgeschrien.
Ich habe nicht aufgepasst. Der Schlüssel dreht sich, ich drehe mich um. Er schiebt das Essen rein. Ich lächele. Das dumme Arschloch hat Besteck dazu gelegt. Jetzt sitze ich in meiner roten Lache und bin froh, dass ich das beschissene Laminat nicht mehr sehen muss. Die nächste Mahlzeit fällt aus.

Das Prinzip der sparsamsten Erklärung, Ausgabe 8